Interligalexe

Adressatenkreis: Forschung und Lehre

Interligalexe sind formkongruente bedeutungsadäquate Kompositionseinheiten unterhalb der Wortebene in verschiedenen Sprachen. Zur Erklärung: Das französische Verb fructifier (vgl. Rey-Debove 2004: IX) verbindet sich über das Ligalex fruct- mit fructification, fructueux (infructueux), usufructuaire; sodann über das weitere Ligalex –fier mit petrifier, confier, simplifier…Anders als Ligalexe haben Interligalexe eine mehrsprachige Ausrichtung. So weckt fructifier die Assoziation von z.B. sp. fructificar über diese fructificación, fructífero, usufructuario, frutal, frutero, frutería, usofructo; -fier korrespondiert mit den Suffixen it./pt./sp. –ficar(e), dt. –fizieren, en. –fy, schw. –fiera, dän. –ficere. Ihrerseits lösen die Verbalsuffixe Nominalsuffixe zu –tio aus: amplificação, certificazione, modificación, ru. гратифика́ция, dt. Gratifikation, en./fr. gratification… Die Wortstämme (ampli-, certi-, modi-, grati-…) bilden eine offene Klasse, zu der sich jederzeit neue Wörter gesellen können. Die morphematischen Interligalexe (Prä-, In-, Af-, Suffixe) bilden hingegen eine geschlossene Gruppe, die keine neuen Kreationen zulässt. Aber natürlich können sich z.B. -tion, -ment, -age, pré-, anti-, dé oder ihre romanischen Entsprechungen mit neuen Wortstämmen verbinden und neue Wörter bilden.

Ist man ein wenig mit der Interphonologie und den romanischen Orthographien vertraut, so kann man zur Demaskierung ‚fremder‘ Wörter interlinguale Regeln zu einander entsprechenden Buchstabenfolgen nutzen; z.B. -CT- ~ fr. –itlait, huit, fait… ~ it. -tt- latte, otto, fatto ~ sp. –cheleche, ocho, hecho… ~ pt. –eileite, oito, noite… ~ dt. manchmal –cht- Frucht, Nacht), so unterstützen Grundkenntnisse zur Interphonologie und den Orthographien die Erschließung von fr. fruit, fruité (fruchtig), fruiterie, fruiticulteur, fruitier (Obsthändler, -produzent/-baum)… und it. frutto-es./pt. fruta/fruto, en fruit, dt. Frucht, schwed. frukt... sowie der jeweiligen Komposita.

Mit Blick auf die Lernökonomie der Mehrsprachigkeit ist daran zu erinnern, dass jeder in Formkongruenz begründete interlexikalische Identifikationstransfer bi- oder gar pluridirektional verläuft und entsprechende Lerneffekte generiert: Transferbasis aus Sprache A und Zielwort aus B alternieren (fact fr. ↔ fait ↔ fattoabstract ↔ abstrait…). Das folgende Schaubild modelliert die potentiellen Transferrelationen zwischen lateinischen, englischen und vier zielsprachlichen Korrespondenten: Jedes potentielle Zielwort ist assoziativ mit jeder potentiellen Transferbasis verbunden und umgekehrt. – Zum Opfer fallen der Modellierung allerdings erstens die Intensität der interlingualen Vernetzungsdichte. Sie lässt sich in der Zahl der einander entsprechenden interlingualen Formkonvergenzen messen.

      Synergie-Effekt in minimaler Messung

Interligalexe sind Elemente unterhalb der Wortebene, die den europäischen Wortschatz miteinander vernetzen. Dass sich mit einer begrenzten Zahl von Interligalexen eine quasi unbegrenzte Anzahl von Wörtern identifzieren lässt, lässt sich im Sinne der Erzeugung von Synergieffekten und für die Steigerung der Lernwirksamkeit nutzen.

Für den begrenzten Bestand des KRM wurde folgende Quanfifizierung des möglichen lernökonomischen Effektes gemessen. Geht man über den Frequenzrang <5000 hinaus, so steigt der Synergie-Effekt weiter an.

Zur Konstruktion von Interligalexen

Als mehrsprachigkeitsdidaktische Werkzeuge sind Interligalexe, um lernökonomisch wirksam zu sein, flexible Konstrukte, deren Form sich an der zu vermutenden lernerseitig interkomprehensiven Kompetenz ausrichtet. Von daher ist grundsätzlich zwischen reduktiven und expansiven Formen zu unterscheiden. Expansive Formen umfassen mehr Buchstaben als reduktive. Eine assoziative und lernerleichternde Beziehung zwischen einem Interligalex und seinen Verwandten herzustellen fällt daher leichter. Als Beispiel für eine expansive Variante: habit- > it. abitare, sp. habitar…, hábito, fr. habitude, it. abitudine, en. habit (Gewohnheit), to habit (kleiden), fr. habiter, pt./sp. habitar (wohnen), fr. habitacle, en./pt./sp. habitual, fr. habituel u.a.m. Die reduktive Form umfasst natürlich alle Okkurrenzen des expansiven Interligalexes, zusätz jedoch: hab- > haber, avere, fr. habil, it. abile, en. able, ability, pt./sp. hábil, habilité, habilidad…, habiller, abbigliare, abbigliamento.. u.a.m. Mit dem Mehr an formaler Offenheit korreliert ein Mehr an erforderlicher semantischer Klärung (Disambiguierung). Die expansive Form erleichtert es Lernern, die entsprechenden zwischensprachlichen Assoziationen aufzubauen, allerdings zum Preis eines weniger umfangreichen Assoziationsfeldes.

Die assoziative Mächtigkeit von Bedeutungskernen

Die Tabelle modelliert am Beispiel des Interligalexes fact- dessen assoziative Potenz. Diese bemisst sich einerseits in der Zahl der Kompositionen mit und um fact-, andererseits in der relativen Eindeutigkeit seiner semantischen Zuordnungen, welche sich als interlinguale Bedeutungsadäquanzen oder Bedeutungskerne ausmachen lassen.

Dies erfordert eine kurze begriffliche Klärung: Die Mehrsprachigkeitsdidaktik hat, wie an anderer Stelle dargelegt, davon auszugehen, dass eine hundertprozentige Synonymie zwischen formkongruenten Wörtern in verschiedenen Sprachen nur in den allerseltendsten Fällen begegnet. Wie Schaeder (1990) feststellt, ist Intersynonymie außerhalb der Fachsprachen – streng genommen – nicht existent. (Allerdings wiesen Kritiker diese Feststellung mit Blick auf die Lehrlernpraxis als übertreibende „Bedeutungsseismographie“ zurück).

Tabellarischer Aufriss zum Interligalex fact- und seiner assoziativen Mächtigkeit
Legende: Eintragungen aus LEO und WordReference. Die Zahlenangaben bezeichnen Frequenzränge nach ROUTLEDGE und De Mauro et al.( vgl. Literatur in Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit). Die Anordnung erfolgt nach den französischen Lemmata. Das Interligalex fact– darf nicht mit –fact– gleichgesetzt bzw. verwechselt werden (défaire, sfarsi, rifare, deshacer…).

Bedeutungsadäquanzen zu fact:

Für das Interligalex fact- lassen sich, wie gelistet, zum Bedeutungskern b) ‚machen‘ mindestens 6 Formkongruenten feststellen. Der Bedeutungskern ‚rechnen‘ – a) – ist ein Unterbegriff (Hyponym) von ‚machen‘. Die etymologische Analyse lässt ältere, heute in Vergessenheit geratene Bedeutungen aufleuchten. Zum Bedeutungskern a)/b) deutlich distant ist c) factieux ‚rebellisch‘ < FACTIOSUS. Hierzu bemerkt Littré: « Qui excite du trouble dans l’État. Une secte factieuse. » Weniger distant zu a)/b) ist e) factice, en. fake (nicht echt). FACTOR – (Macher), d) – lässt ungezählte Referenzen und Referenzbereiche zu, was die Bedeutungsdistanzen von fr. facteur ~ en. postman, pt. carteiro bis hin zu facteur/factor in der Mathematik und die ausgreifende Bedeutung ‚potentieller Veränderer‘ (un facteur crucial) erklärt. Das Beispiel zeigt: Bedeutungskerne lassen sich in hyperonymischen, hyponymischen und ko-hyponymischen Beziehungen abbilden. Im Falle der Interligalexe sind diese Beziehungen einzelsprachlich-übergreifend und mehrsprachig. Die Bedeutungskerne sind nicht immer klar gegeneinander abgrenzbar.

Der Frequenzrang einer Vokabel ist ein wichtiger Faktor zur Beurteilung ihrer pädagogischen Relevanz. Gleiches gilt für die Interligalexe. Ein Blick auf die obige Tabelle belegt eine starke Zugehörigkeit von nur ganz wenigen Kernbedeutungen zum Frequenzrangintervall <5000; betroffen sind seriell die Nummern 1, 4, 15; 3 und 15 (facture) verbinden sich mit mehreren Derivationen. (Aus Gründen der besseren Sichtbarkeit wurde die Serie zu fr. facture in beide Semien getrennt; wobei auch 15 der Serie 3 nachgeordnet [hyponym] ist.) Mit zwei Ausnahmen sind die <5000-Markierungen seriell und betreffen alle formkongruenten Entsprechungen. Ganz überwiegend bezeichnen die Markierungen oberhalb des Frequenzrangs von 5000 Lemmata, die sich mit 1, 4 oder 15 einen Bedeutungskern teilen. Sie sind also für Lerner transparent! Allein factieux… und factice… sowie en. fake sind zu den Bedeutungskernen distant. Wie die Frequenzanalyse zeigt, erlauben die Bedeutungskerne unterhalb des Frequenzrangs von 5000 das leichte Erschließen der Kerne oberhalb dieser Grenze – allerdings mit Ausnahmen der semantisch distanten Vertreter. Nicht immer weisen diese ein eigenes, von der Serie verschiedenes Etymon auf.

Literatur

[Littré] Beaujean, A. (1990): Dictionnaire de la langue française, abregé du DICTIONNAIRE DE LITTRÉ par A. BEAUJEAN. Paris: Librairie Générale Française.
F.-J. Meißner: The interligalexes of the Core Vocabulary of Romance Plurilingualism (CVRP) and their potential effects on plurilingual learning economy. Rivista di Psicolinguistica Applicata/Journal of Applied Psycholinguistics 19(2), 2019, pp. 31-46.
Rey-Debove, J. (2004): PRÉFACE. De l’étymologie à l’analyse méthodique des mots: vers une nouvelle pédagogie. In: LE ROBERT BRIO. Paris: Dictionnaires le Robert, pp. 7-XI.
B. Schaeder (1990): Das Problem der Äquivalenz aus der Sicht der Internationalismenforschung. In: P. Braun/B. Schaeder/J. Volmert (Hrsg.): Internationalismen. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. Tübingen: Niemeyer, pp. 63-73.

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