Historische Rahmung

 

Auf dem Gebiet der heutigen romanischen Länder hat das Lateinische seit jeher das tägliche Leben der Menschen begleitet. Von Wortschatz, Lautstand, Wortbildung und Satzbau her gesehen war indes die Sprache des Volkes – besser: waren die gesprochenen Varietäten des Lateinischen der romanischen Völkerschaften – weit vom klassischen Latein entfernt, wie es in der Literatur und im Lateinunterricht begegnet. Wie sehr die alltägliche Mündlichkeit den ursprünglichen Lautstand veränderte, zeigen die Entwicklungen von lat. AQUA > fr. eau, von MAND(U)CARE > fr. manger und it. mangiare. Zwei Beispiele von vielen. Solche Wörter, die immer in den romanischen Sprachen gelebt haben, heißen Erbwörter (mots populaires). Dem Schriftlatein (das nur ein kleiner Teil der romanischsprachigen Bevölkerung benutzen konnte) blieb es vorbehalten, Sprache der Wissenschaften, der Kirche und des Handels zu sein – und zwar europaweit und weit über die Romania hinaus. Dieses Latein, das vorzugsweise nur den Lesekundigen begegnete, stand immer zur Verfügung; auch wenn es darum ging, neuen Benennungsbedürfnissen mit Bedeutungserweiterungen oder ganz neuen Wortbildungen zu entsprechen. Man fand die Vorlagen im lateinischen und z.T. im griechischen Schrifttum der Antike bzw. dem Latein des Mittelalters und der Neuzeit. Die betroffenen ‚gelehrten‘ Wörter nennt die Linguistik Buchwörter (mots savants internationaux)Sie sind oft international verbreitet. Dies erklärt – besonders deutlich im Französischen – die Existenz von Dubletten: Neben dem erbwörtlichen mère begegnen buchwörtlich maternel, maternité, matriarchat aus der Wurzel MATRE(M). Dubletten sind oft das Ergebnis von Mehrfachentlehnungen. Diese betreffen nicht die Relation ‚klassische Spendersprache‘ > Volkssprache X (it. etimologia remota); statt dessen geschahen Entlehnungen auch aus den verschrifteten Volkssprachen (volgare). Dies betraf im Falle der Buchwörter auch moderne Bedeutungserweiterungen. So geht dt. Demokratie nur vordergründig auf gr. δημοκρατία zurück. Dem altgriechischen Etymon fehlen die entscheidenden Bedeutungen: Volkssouveränität, evtl. politische Repräsentativität (für große territoriale Flächenstaaten unerlässlich), Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechte. Im Vergleich zum heutigen Begriff ist dessen altgriechische und lateinische (democratia) Interpretation ein Torso. Auch die Wissenschaften kreieren Kompositionen aus lateinischen und/oder altgriechischen Elementen: Oxydation, Kommunismus usw. Solche Szientismen sind ebenfalls international präsent.

Literatur: Horst G. Klein & Christina Reissner: EuroComRom. Die historischen Grundlagen der romanischen Interkomprehension. Aachen: Shaker 2003.

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